Sidhpur: Indiens vergessene Geisterstadt mit europäischer Seele

Geisterstadt in Indien
Geisterstadt in Indien

Wer bei „Lost Place“ automatisch an verlassene Fabriken oder bröckelnde DDR-Kliniken denkt, wird in Gujarat, Indien, eines Besseren belehrt. Willkommen in Sidhpur, einer Stadt, die aussieht wie aus einem französischen Märchenbuch gefallen – nur dass der Glanz verblasst, die Fensterläden knarzen und die Straßen eher mit Staub als mit Leben gefüllt sind.

Denn Sidhpur ist keine normale Stadt. Sie ist ein architektonischer Schatz, ein fast verlassener Ort voller Jugendstil-Fassaden, barocker Schnörkel und islamischer Ornamentik – kurz: ein Lost Place der Extraklasse.

Europäischer Chic trifft indischen Staub

Wenn man durch das Viertel Vohrawad schlendert (oder besser: ehrfürchtig staunt), könnte man glatt meinen, man sei in Lyon oder Lissabon. Pastellfarbene Villen mit Giebeln, Monogrammen und verzierten Balkonen säumen die leeren Gassen. Doch statt Baguette und Espresso gibt’s hier Chai und Geschichte – und zwar jede Menge davon.

Geisterstadt in Indien
Geisterstadt in Indien
Sidhpur Geisterstadt
Sidhpur Geisterstadt

Erbaut wurde das Viertel von der wohlhabenden Dawoodi Bohra-Gemeinschaft, einer schiitisch-muslimischen Handelselite, die ihren Ursprung in Ägypten hatte, über den Jemen nach Indien wanderte und hier im 19. Jahrhundert so richtig durchstartete – zumindest finanziell. Während der Kolonialzeit handelten die Bohras mit Glas, Textilien und Eisenwaren – und investierten großzügig in ihre Wohnträume. Das Ergebnis: ganze Straßenzüge voller kunstvoller Herrenhäuser, die heute aussehen wie die leerstehenden Kulissen eines orientalisch-europäischen Films.

Von der Handelsstraße zur Geisterstadt

Heute sieht das alles ein wenig anders aus. Die Villen sind größtenteils verlassen, die Farben verblassen, Türen sind mit Vorhängeschlössern gesichert. Ein Lost Place mit Stil, aber eben auch mit Spinnweben. Die einst pulsierenden Straßen sind still geworden. Junge Generationen haben das Viertel längst verlassen – auf der Suche nach Jobs, Studienplätzen oder schlicht WLAN.

Und doch ist die Magie geblieben. Man muss nicht viel Fantasie haben, um sich das ehemalige Leben hier vorzustellen: Kinder auf den Balkonen, Händler mit Turbanen, Frauen im Fensterrahmen. Apropos Fenster: Diese sind in Vohrawad nicht einfach Lücken in der Wand, sondern inszenierte Bühnen, auf denen sich der Alltag abspielte – inklusive Nachbarschaftstratsch, Geschäftsanbahnung und stiller Bewunderung.

Architekt Himanshu Burte beschreibt es so: „Die Fenster sind leicht erhöht, so dass man nah am Geschehen ist, ohne sich in den Staub der Straße setzen zu müssen. Man kann hinausschauen, winken, rufen – oder einfach nur gut aussehen.“ (Zitat sinngemäß übersetzt.)

Lost Place mit Liebe zum Detail

Die Häuser selbst? Eine wilde Mischung aus Neoklassizismus, Art Nouveau, islamischen Ornamenten und lokalem Holzbau. Klingt verrückt? Ist es auch – auf die beste Weise. Die Dawoodi Bohras waren schließlich Händler, viel gereist, offen für neue Einflüsse. Das zeigt sich in jeder Fensterrose, in jeder geschnitzten Veranda.

 

Aber so viel Schönheit hat auch ihren Preis: Der Verfall ist überall sichtbar. 2013 durfte der amerikanische Fotograf Sebastian Cortés einige der Innenräume dokumentieren. Was er dabei entdeckte, ist eine Mischung aus Wehmut und Wunder: leere Räume mit belgischen Spiegeln, staubige Kronleuchter, Holzvertäfelungen, die noch immer glänzen – zumindest im richtigen Licht.

Seine Fotoserie „Sidhpur: Time Present Time Past“ ist eine Liebeserklärung an diesen verlorenen Ort. Eine Hommage an eine Zeit, in der Eleganz und Nachbarschaft noch zusammengehören durften.

Geisterstadt mit Herzschlag

So verfallen die Straßen auch scheinen mögen – ein paar unermüdliche Bewohner gibt es noch. In einem Blog berichtet eine Reisende von einer älteren Dame, die am Fenster sitzt und sagt: „Angst? Nein, wieso? Das ist mein Zuhause. Ich bin hier aufgewachsen.“ Drei Familien leben noch in ihrer Straße – und passen gegenseitig aufeinander auf. Eine Geisterstadt mit Gemeinsinn also. Nicht schlecht für einen Lost Place.

Sidhpur Lost Places
Sidhpur Lost Places

 

Sidhpur Geisterstadt mit Herzschlag
Sidhpur Lost Places

Was bringt die Zukunft?

Viele der prachtvollen Villen wurden bereits verkauft oder abgerissen. Immobilienentwickler schielen auf die Grundstücke, Touristen wundern sich, warum niemand das Viertel restauriert. Und die Einheimischen? Viele zucken mit den Schultern. In einem Land mit wachsendem Wohlstand – aber auch bitterer Armut – ist der Verkauf alter Villen oft keine Wahl, sondern Notwendigkeit.

Trotzdem bleibt ein bittersüßer Beigeschmack: Sidhpur verliert etwas, das man mit keinem Geld der Welt ersetzen kann. Einen kulturellen Fingerabdruck. Ein architektonisches Mosaik. Eine Geschichte, die leise verschwindet – Stein für Stein, Fenster für Fenster.