Es gibt Geschichten, die Motorradliebhaber zum Sabbern bringen – und gleichzeitig in die Tischkante beißen lassen. Eine davon ist die moderne Legende vom „Last Motorcycle Graveyard“, einem geheimen Friedhof für alte Motorräder im US-amerikanischen Lockport, New York. Was zunächst wie der feuchte Traum eines jeden Zweiradfans klingt, entpuppt sich als bittersüße Odyssee zwischen Abenteuer, Verfall und ganz viel Rost.


Der Fund, der alles veränderte
Es begann, wie so viele moderne Märchen, im Internet. David Cuff, seines Zeichens Enthusiast alter Motorräder und Betreiber der Website Classic Cycles, stieß auf ein paar mysteriöse Fotos auf Flickr. Zu sehen waren verlassene Lagerhallen, aus denen alte Motorräder in allen Zuständen ragten – teilweise komplett, teilweise skelettiert, aber allesamt eindrucksvoll. Klar, dass David nicht lockerließ.
Nach ein bisschen Sherlock-Holmes-Arbeit in einschlägigen Foren und einigen fragwürdigen Chatnachrichten (vermutlich mit Leuten, die mehr Benzin als Blut im Körper haben), hatte er den Ort ausfindig gemacht: Lockport, neun Stunden nördlich von seinem Wohnort.
Also: Kumpel eingepackt, Kamera geladen, Kaffee auf Vorrat – und ab auf die Straße Richtung rostiges Nirwana.

Erste Begegnung mit dem „Alten Motorrad-Paradies“
Vor Ort angekommen, schildert David die Situation so: „Ich stand da wie ein Bankräuber auf Erkundungstour.“ Und wer die Fotos sieht, glaubt es sofort. Verfallene Gebäude, hier ein Benzintank, dort ein verbeulter Rahmen. Dann – Jackpot! Eine angelehnte Tür, dahinter ein altes Motorrad, das einsam an der Wand lehnte wie ein vergessener Westernheld.
Doch was im Keller auf ihn wartete, ließ selbst dem hartgesottensten Schrauber die Kinnlade auf Halbmast hängen: hunderte, vielleicht tausende alter Motorräder. Verrostet, zerbeult, aber wunderschön. Die Feuchtigkeit hatte ihnen zwar zugesetzt, doch inmitten von einsturzgefährdeten Treppen und knarzenden Dielen offenbarte sich ein Schatz, den kein Schatzjäger hätte besser erträumen können.
Ein altes Motorrad neben dem anderen – manche halb in den Keller gestürzt, andere drohten von der dritten Etage durch die Decke zu brechen. Indiana Jones hätte geweint. Oder sofort sein Zelt aufgeschlagen.

Ein altes Motorrad? Wer sammelt denn so was?
David wollte mehr wissen. Wer hatte dieses rostige Reich erschaffen? Die Antwort: ein Mann namens Kohl. Über 50 Jahre lang hatte dieser leidenschaftliche Motorradfan mehrere Werkstätten betrieben. Alte Motorräder? Immer her damit! Von Inzahlungnahmen bis zu aufgelösten Händlern – Kohl hortete alles, was einen Tank und zwei Räder hatte.
1997 verkaufte Kohl das Gebäude samt Inhalt an einen Mann namens Frank, der den Laden als „Kohl’s Cycle Salvage“ weiterführte. Doch mit der Zeit gerieten die Steuern in Rückstand, das Gebäude verfiel, der Besitzer wurde vom Betreten ausgeschlossen. So begann der Verfall – aber auch Davids zweite Chance.


Mission Rückholung: Zweiter Besuch mit Anhänger
Als Frank von der Stadt ein Ultimatum bekam („Hol raus, was du willst – bis November 2010“), war David zur Stelle. Diesmal mit einem Anhänger – und ganz viel Platz für Erinnerungen. Ganze sechs Stunden durchkämmten er und seine Freunde das Gebäude. Sie retteten, was zu retten war. Und das zu erstaunlich fairen Preisen.
David nahm drei Motorräder mit: eine vollständige Honda CB350, einen rollenden Jawa-Rahmen aus den 50ern – und ein mysteriöses „Was-ist-das?“-Bike. „Made in Germany“, mehr stand nicht drauf. Kein Frontteil, keine Typenbezeichnung. Vielleicht ein altes Motorrad von einem Hersteller, den nicht mal Google kennt.
Die Apokalypse in der Mülltonne
Vier Tage später kehrte David erneut zurück – rechtzeitig, um den wahren Albtraum jedes Motorradliebhabers zu erleben: Zwei riesige Container, bis oben hin gefüllt mit alten Motorrädern. Einfach verschrottet. Frank musste sich aus Platz- und Kostengründen von einem großen Teil der Sammlung trennen.
David konnte noch ein paar Teile retten, hörte Geschichten aus Franks goldener Zeit – darunter auch die schockierende Anekdote, dass dieser einst 600 (!) Motorräder verschrottet hatte. Und das waren keine Plastikbomber aus den 80ern, sondern echte Perlen aus den 60ern und 70ern.
Das Ende der alten Motorräder: Feuer und Flamme
Im Juli 2013 kam dann der endgültige Schlussstrich. Das Gebäude brannte vollständig nieder. Was die Zeit, die Feuchtigkeit und der Steuerbescheid nicht geschafft hatten, erledigte nun das Feuer: Der letzte große Friedhof für alte Motorräder war endgültig Geschichte.
David kommentierte das Ereignis mit einem Satz, der jedem Fan alter Zweiräder in die Magengrube fährt: „Ich fürchte, es wird nie wieder einen Schrottplatz wie diesen geben.“
Und er hat recht. In Zeiten von eBay, Kleinanzeigen und Online-Auktionen ist es fast unmöglich, dass ein ganzes Lager mit Motorrädern einfach vergessen wird. Alte Motorräder sind heutzutage Kulturgut – und damit ein Geschäft. Doch diese Geschichte erinnert uns daran, wie viel Abenteuer, Emotion und Geschichte in jedem verbeulten Tank und jedem verrosteten Rahmen stecken kann.
Persönliche Anmerkung: Warum ein altes Motorrad mehr als nur ein Haufen Schrott ist
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Ein altes Motorrad ist nicht nur ein Stück Metall mit zwei Rädern. Es ist ein Zeitzeuge. Eine Erinnerung. Und manchmal der Anfang einer ganz großen Liebesgeschichte – zwischen Mensch, Maschine und einer ordentlichen Portion Patina.
Wenn du also das nächste Mal ein altes Motorrad in einer Scheune siehst – halte nicht nur Abstand wegen der Spinnen. Halte inne. Träume ein bisschen. Und vielleicht findest du ja dein ganz persönliches „What’s-it“-Bike.
Denn eins ist sicher: Solche Geschichten gibt’s nicht auf Amazon – aber vielleicht hinter der nächsten rostigen Tür.